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2007 Titel

Über die Entsorgung der philosophischen Tradition

Garbsen, d. 30.4.07

An „Konkret“ – Leserbrief

Zum Artikel
„Unheilbares Verderbnis
Immanuel Kant und seine Philosophie gelten derzeit als wichtigste Waffe im Kampf gegen eine islamistische Kolonisierung. Kein Wunder“
Von Frank M. Renkewitz und Ralf Schröder in „Konkret" 5/2007, S. 40 ff.

Renkewitz und Schröder kritisieren, dass Kant vergöttlicht werde als der Aufklärungsphilosoph, sie suchen deshalb in seinen Schriften offensichtlichen Blödsinn heraus – und siehe da, er erscheint auch nur als ein theoretisches Arschloch. Eine solche Vorgehensweise ist mehrfach falsch.
  Erstens nimmt man diese Vergöttlichung Ernst und bestätigt dadurch ex negativo solche Politiker, die weihevoll Kränze an seinem Denkmal ablegen.
   Zweitens würde man mit dieser Methode bei jedem Denker Sätze finden, die nicht stimmen – also kann man damit jeden Philosophen abstrakt negieren und sich in seinem erbärmlichen Zynismus bestätigen. Dass die Geschichte der Philosophie auch als Prozess der Entwicklung von Wahrheiten gelesen werden kann, kommt nicht mehr in den Blick. Insoweit Kant zum Fortschritt der Erkenntnis beigetragen hat, kann nicht mehr gedacht werden.
   Drittens ist diese Schreibe selbst eine philosophische Richtung, nämlich eine Variante des vorherrschenden Skeptizismus a la Deridada und Lacacancan. Man kritisiert eine ältere Variante bürgerlicher Ideologie vom Standpunkt einer modernen. Das ist Interesse geleitete Willkür unter dem Schein von Aufklärung.
   Des Weiteren enthält diese Polemik gegen einen Denker, der über 200 Jahre tot ist, alle logischen Fehler, die man nur machen kann, wie Sprünge im Denken, Anachronismen, Halbwahrheiten, Konfundieren der Gegenstände, willkürliche Auswahl der Zitate in denunziatorischer Absicht, Aufbauschen zeitbedingter Vorurteile, Widersprüche bis hin zu offensichtlich falschen Sätzen – das ist die Methode der Gedankenpolizei, die abstrafen will, anstatt zu widerlegen.

B Gaßmann
(Redakteur der „Erinnyen“)

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1.3.07

 Das moralische Prekariat im Führungspersonal der herrschenden Klasse

 Zum Mediengedröhne um Christian Klar

Einige publizitätsgeile Politiker nutzen das Gnadengesuch von Christian Klar und seine Grußbotschaft an die Rosa-Luxemburg-Konferenz, die von der ARD ausgegraben und zur Sensation aufgebauscht wurde, um ihre verfassungsfeindliche Gesinnung zu offenbaren. Klar, ein ehemaliger RAF-Terrorist, sitzt seit 24 Jahren im Gefängnis und hat ein Gnadengesuch gestellt, um vorzeitig, d. h. jetzt zwei Jahre früher, entlassen zu werden. "So war's ein schwer Vergehen, und schwer hat er dafür gebüßt." Er selbst hat glaubhaft gemacht und die Gutachter der Justiz in Baden-Württemberg, wo er derzeit einsitzt, haben dies bestätigt, dass er nicht mehr gewalttätig gegen den Staat vorgehen will und wird. Das genügt als Voraussetzung einer Haftentlassung 2009, evtl. auch für das Gnadengesuch schon 2007. Man sagt, ein Mensch, der über 15 Jahre einsitzt, ist psychisch zerstört. Das Gnadengesuch liegt letztlich im Ermessen - um nicht zu sagen der Willkür - des Bundespräsidenten.

Nun hat Klar ein Grußwort an den Rosa-Luxemburg-Kongress geschrieben, in dem er richtig die Folgen der Kapitalherrschaft anprangert, ähnlich wie die Bischöfe in Brasilien, und etwas utopistisch davon spricht, die "Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden und die Tür für eine andere Zukunft aufzumachen". (http://www.jungewelt.de/2007/02-28/049.php?print=1 ; vom 28.2.07) 

 Wenn nun Politiker, die immer schon antikommunistische Vorurteile bedienen, die spätestens seit der Nazizeit zum politischen Triebhaushalt der deutschen Spießergesellschaft gehören, eine antikapitalistische Gesinnung mit Aufruf zur Gewalt gleichsetzen, also kriminalisieren, dann betrifft das nicht nur das isolierte Individuum Christian Klar, sondern die ganze Linke in Deutschland und alle antikapitalistisch eingestellten Menschen, zu denen ca. 20 bis 40 % der Bevölkerung gehören.

 Das bundesdeutsche Grundgesetz bestimmt in Artikel 1.1.: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt." Dies gilt auch für einen einsitzenden ehemaligen Terroristen. Die staatliche Gewalt kann in Form von Justiz und Polizei einen Menschen mit Zwang von individuellen Gewalttaten abhalten, im Notfall sogar auf ihn Schießen und ihn töten, etwa wenn er selbst bewaffnet gegen andere vorgeht, aber sie darf ihn nicht seiner Würde berauben, den Kernbereich seiner Persönlichkeit zerstören - etwa durch ein Todesurteil oder die moralische Tötung, indem jemand zu (meist geheuchelter) Reue, zu Demutsgesten oder zu einer genehmen politischen Gesinnung gezwungen wird. Letzteres verstößt auch noch gegen das Menschenrecht auf Gewissens- und Meinungsfreiheit.

 Genau das fordern aber Bechstein, Westerwelle und Konsorten. Diese Schreier, deren Quaken durch die Massenmedien zu einem Dröhnen wird, entlarven sich als Verfassungsfeinde. Im Falle von Bechstein, der Innenminister in Bayern ist und demnächst Ministerpräsident werden will, haben wir einen Verfassungsfeind in Regierungsfunktion. Westerwelle dagegen ist wegen seiner geringeren Stellung als bloßer Bundestagsabgeordneter nur als antiliberaler Liberaler anzusehen. Er als Vorsitzender der liberalen Partei blamiert sich vor seinem Kollegen Baum, ehemals Innenminister der BRD, der noch auf der Rechtsstaatlichkeit und moralischen Verantwortung der Politiker beharrt: "Von der Meinungsfreiheit sind radikale Äußerungen bis hin zum blühenden Blödsinn gedeckt. Sie endet erst dort, wo Straftaten berührt sind, und diese Grenze überschreitet Klar mit seinem Pamphlet nicht." (http://zeus.zeit.de/text/online/2007/09/christian-klar-begnadigung  ;  vom 27.2.07)

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 Moral soll in der Klassengesellschaft die Gewalt, die sonst durch bloßes Recht geregelt würde, reduzieren, indem die Menschen sich freiwillig an die Regeln halten. Gäbe es diese Freiwilligkeit nicht, könnte ein Staat im kapitalistische Deutschland gar nicht existieren. Insofern ist Moral eine ideelle Existenzbedingung der herrschenden Verhältnisse. Indem führende Politiker diese Moral, zu der sie sich in Sonntagsreden bekennen, selbst verletzen, wenn es um die rechtmäßige Begnadigung eines ehemaligen Terroristen geht, also ihres Feindes, helfen sie mit, die eigene ideelle Existenzbedingung der Verhältnisse, deren Profiteure sie sind, zu untergraben. Wenn die selbsternannten Moralapostel die Moral brechen, dann fördern sie den Gewaltanteil der gesellschaftlichen Beziehungen, sie machen also das, was sie Klar heute fälschlich unterstellen. Kein Wunder, wenn gewalttätige "Autonome", Hooligans oder einfach nur frustrierte Jugendliche sich ein Dreck um Moral und Recht kümmern - bei diesen Vorbildern.

 Diese Politiker rufen verbal zum Bruch der Rechtsstaatlichkeit auf: Sie fordern Unrechtmäßiges von Klar, z. B. Reue, was den letzten Rest seiner Würde, die er im Gefängnis anscheinend noch hat, zerstören würde; und sie üben Druck auf den Bundespräsidenten aus, der bei Begnadigungen allein zuständig ist. Sie schwingen die moralische Stammtischkeule, faseln wider besseres Wissen etwas von Entschuldigung und Abschwören, obwohl das keine Rechtsbegriffe sind, verlangen Verrat und Demutsgesten, also die endgültige Vernichtung der Persönlichkeit von Klar, und verweisen auf die Hinterbliebenen der Opfer des ehemaligen Terroristen, die selbst in ihrer Mehrheit nur eine Aufarbeitung der Vergangenheit, aber keine Demutsgeste verlangen. Das ist unmoralisches Moralisieren aus niederen Beweggründen - nämlich um Stimmen und Stimmung für sich selbst zu erzeugen, Ressentiment in der Bevölkerung zu produzieren, um für den nächsten Wahltag zu mobilisieren; eine rechte antidemokratische Stimmung  soll popularisiert werden.

 Die gleichen Leute, die sich noch aufgeregt haben, als Saddam Hussein bei seiner Hinrichtung im Irak beschimpft wurde, das sei würdelos, - denn da ging es gegen die Amerikaner, die das zugelassen hätten -, versuchen Christian Klar zu entwürdigen, indem sie ihn mit staatlicher Gewalt, der Ablehnung von Hafterleichterungen, zwingen wollen, ihre kapitalistische Ideologie zu übernehmen. Wer das kapitalistische Wirtschaftssystem verteidigt, das 850 Millionen Menschen auf der Erde hungern lässt und das permanent Kriege zur Sicherung seiner Geschäftsbedingungen benötigt, ist selbst bereits unmoralisch - gemessen am eigenen Bekenntnis zu den Menschenrechten, denn hungern zu müssen ist ebenfalls würdelos, im völkerrechtswidrigen Krieg als Kollateralschaden krepieren zu müssen verstößt gegen jedes Recht. Und solche Heuchler wie Beckstein und Westerwelle, die hier nur stellvertretend für die Mediokrität des Führungspersonals stehen, schwingen sich auf, über eine durch staatliche Gewalt vernichtete Persönlichkeit zu richten und ihr noch den letzten Rest von Würde zu nehmen.

 Ich hoffe, der Bundespräsident, der zwar ein wirtschaftlicher Neoliberaler ist, aber sich vielleicht noch an rechtsstaatlichen Kriterien orientiert, weil auch das Kapital diese braucht, wird Christian Klar unabhängig von seiner Gesinnung begnadigen. Das Grundgesetz, die Hausordnung für alle Klassen (Herbert Wehner), ist jedenfalls in den Händen der rechten Mischpoke nicht sicher. Sie wollen nur eins: Rache - Originalsprache Stoiber: "Nach diesem Aufruf zum Kampf gegen unsere (!) Grundwerte (!) stellt sich grundsätzlich die Frage, ob lebenslange Freiheitsstrafe gegen Christian Klar nicht bedeuten muss, dass er auf Dauer hinter Schloss und Riegel gehört." (http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/544/103441/print.html

 Wenn das die Leitkultur ist, die man jetzt auch hier lebenden Ausländern aufzwingen will, dann ist das jedenfalls nicht meine Kultur. Mit dieser konservativen Umdeutung des Grundgesetzes zu bloßen Grundwerten soll aus einklagbaren Menschenrechten etwas gnädig Gewährtes werden - das man im Bedarfsfall auch nicht gewährt. Damit das geltende Recht nicht in Anspruch genommen wird, weckt man primitive Instinkte, verlässt sich auf das Ressentiment, lebt seine Rache aus und weckt ein Klima der Irrationalität, in dem alle Prinzipien grau sind, damit man sein Karrieresüppchen kochen kann, auch wenn man wie Stoiber schon karrieremäßig waidwund am Boden liegt.

 In der Schürung von Ressentiment, der Rache der geistig Minderbemittelten, gegen Christian Klar soll jede antikapitalistische Haltung kriminalisiert werden. "Keine Gnade" (Westerwelle), "auf Dauer hinter Schloss und Riegel" (Stoiber) - das sind die zur Zeit noch ohnmächtigen Wünsche des Prekariats der herrschenden Klasse gegen die Linke insgesamt. Die Beobachtung von Herbert Marcuse aus den 30er Jahren, dass auch die Liberalen regelmäßig ihre Liberalität aufgeben, wenn sie das Eigentum in Gefahr sehen, bestätigt sich auch in diesem Fall. Selbst die  Äußerung des Gedankens daran wie bei Klar bringt die Protofaschisten schon in Rage. Sie haben sich am Fall Klar offenbart.

Wir werden auf der Hut sein!  

Tisiphone

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Reaktionäres Harmoniebewusstsein

Rezension von zwei Büchern eines Sozialreformers und psychologischen Ratgebers

(Eine E-Mail, die ihren Empfänger nicht erreichte)

 Zu: Dreßler, Johannes: Der Mensch – das zu Bewußtsein erwachte Sein. Über den Sinn des Lebens und wie wir ihn erfüllen können, Zechlinerhütte 1999; Dreßler, Johannes: Bewußtsein – die Einheit von Empfinden, Streben und Fühlen – und seine Steuermechanismen. Entwurf einer allgemeinen umfassenden Theorie, Kampehl 2002.

 Sehr geehrter Herr Dreßler,

 Sie haben mir vor einiger Zeit zwei Ihrer Bücher zugeschickt und mich um meine Beurteilung gebeten. Dem möchte ich hiermit nachkommen.

 Wer sich an die Öffentlichkeit wagt mit seinen Gedanken, muss sich an die Spielregel einer vernünftig bestimmten Öffentlichkeit halten, und diese Spielregel heißt Kritik. Bevor Sie also diese Kritik lesen, sollten Sie sich überlegen, ob Sie diese E-Mail nicht einfach löschen, denn ich lasse nicht viel Gutes an ihren Schriften.

 Bereits der Titel „... allgemeinen umfassenden Theorie“ empfinde ich als Anmaßung. Vergleicht man ihr Buch etwa mit der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel, wird dies sofort deutlich. Obwohl Sie sich auf psychologische Probleme konzentrieren, steht selbst über diese mehr und Tiefsinnigeres bei Hegel als bei Ihnen. Lesen Sie nur einmal, was Hegel dort über die Angst („Schrecken“), Freiheit und Individualität schreibt (VI. B. III.) und vergleichen Sie dies mit Ihren Ausführungen darüber.

 Hegel betrachtet die Phänomene vom Standpunkt der Totalität, indem er eine 2000jährige Tradition reflektiert hat, Sie aus der begrenzten Perspektive einer Einzelwissenschaft, der Psychologie, die sich zur „Weltanschauung“ aufspreizt.

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 Ihre Hauptthese, die Sie implizit unterstellen und hier und da auch aussprechen ist, dass es ein einheitliches Menschenwesen gibt, das sie quasi naturwissenschaftlich untersuchen wollen. Sie abstrahieren dabei aber fast vollständig von der historisch entstandenen kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Triebstruktur, diese Gesellschaft erscheint bestenfalls in einigen Erscheinungen in ihren Büchern, wie z.B. als Fernsehen oder als „Habgier“, ohne die sozialen und ökonomischen Mechanismen, die dahinter stehen und unser Leben und unsere Psyche bestimmen.

 Der Zweck Ihrer Bücher ist es u.a., schädliche Strebungen aufzudecken, um sie zu überwinden. Sie schreiben: „Verheerender schon sind die vielen Formen von Überlegenheitsstreben, von Unterdrückung, Habgier, Niedertracht, Egoismus, Aggressivität. Die Neigung zu sinnlosem Luxuskonsum und zunehmende Überbevölkerung fügen dem Lebensraum Erde schwere Schäden zu.

   Doch auch diesen Mangel können wir durch die gezielte Gestaltung unseres EP (Erwartungsprogramm, B.G.) weitgehend beheben.“ (2002, S. 45)

 Wie Habgier durch den Kapitalismus in die Welt gekommen ist, können Sie bei Karl Marx und Max Weber nachlesen; diese Habgier durch psychologische „Gegenprogramme“ „weitgehend beheben“ zu wollen, ohne die ökonomischen und sozialen Grundlagen anzutasten, weil Sie die sozialen Verhältnisse zu einem Defekt in unserer psychischen Verfasstheit umdeuten, bleibt ein Rätsel. Nicht rätselhaft ist aber der Zweck solcher psychologischen Ratschläge: Sie sind falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung, also das, was den präzisen Begriff von Ideologie ausmacht. Psychologie erscheint als die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt.

 Ähnliches gilt für die anderen Eigenschaften, die Sie bekämpfen wollen. Dass allerdings selbst die  „Überbevölkerung“ zum psychischen Problem erklärt wird, ist für mich nur ein Witz – als ob nicht das Kapital sich die Bevölkerung zulegt, die es braucht. Lesen Sie einmal im „Kapital“ von Marx die entsprechenden Kapitel, oder wenn Ihnen der Autor nicht zusagt, jede beliebige andere  Studie über Bevölkerungsentwicklung und ihre Ursachen. 

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 Ein weiterer grundsätzlicher Einwand von mir geht von dem aus, was die „Kritische Theorie“ den avancierten Stand des Bewusstseins oder der Vernunft nennt, einer Vernunft, an die ja auch Sie appellieren (z.B. 1999, S. 199). Sie erstreben „Gefühlsharmonie“ (a.a.O.), „glücklich leben zu können“, Sinnerfüllung“ und „Harmonie des Bewußtseins“ (1999, S. 206), Sie sprechen vom „harmonischen Zusammenhang der Menschen“ als etwas, das heute für alle erreichbar wäre. Dies ist in der Literatur der Weimarer Klassik um 1800 ebenso gefordert worden. Doch schon bald haben die Menschen mit dem Aufkommen der kapitalistischen Industrialisierung erfahren, dass sich die gesellschaftliche Wirklichkeit immer mehr von diesen Idealen entfernt. Die Romantiker haben daraus den Schluss gezogen, wenigstens in der Fantasie  und im Traum diese Ideale zu bewahren, wenn sie schon nicht in der Wirklichkeit gelebt werden können. Doch auch diese Flucht in die Fiktion hat nur 30 Jahre gedauert. (Was nicht hindert, dass heute Schriftsteller immer noch in der Trivialliteratur die Welt romantisieren, wie z.B. in dem Roman „Der Herr der Ringe“.) Der aufkommende Realismus in der Literatur hat dann die Ideale bestenfalls noch als Maßstab seiner Kritik an der Wirklichkeit akzeptiert. Doch auch diese Art der Literatur hat sich als kritikwürdig erwiesen, weil sie immer noch unterstellte, man könne die Ideale doch noch verwirklichen. Erst der sozialistische Realismus (nicht der sowjetmarxistische, sondern der autonome, etwa Brecht) hat die Unvereinbarkeit des klassischen Menschenbildes mit der kapitalistischen Realität wirklich erkannt und die Konsequenzen gezogen, indem er für eine Veränderung der sozialen Wirklichkeit eintrat, wie es die kritische Theorie im Anschluss an Marx immer schon gefordert hat. Das dies auch eine Veränderung des Menschenbildes implizierte, ist eine andere Frage. Indem Sie nun das Menschenbild der Klassik als verwirklichbar propagieren, fallen sie hinter den heutigen Stand der avancierten Vernunft um 200 Jahre zurück. Ihre Vorschläge sind illusionär, um nicht zu sagen reaktionär. Daran ändert auch nichts ihre Kritik des „Großkapitals“ (1999, S. 210).

 Wie technokratisch und damit im Widerspruch zu ihrem klassizistischen Menschenbild Sie die Psyche des Menschen einschätzen, zeigt das Schema des Bewusstseins, das Sie in Ihrem zweiten Buch geben (S. 51). Durch Ihre „Komponenten des subjektiven Bewusstseins“ machen Sie aus der Psyche einen bürokratischen Apparat, der einem Computer vergleichbar funktioniert. Kein Mensch denkt so und keine Analyse der Psyche kann mit diesem Schema wirkliche Gedanken und Gefühle erklären. Wenn man dieses Schema mit der Einteilung der Seele nach Freud (und ähnlich schon Aristoteles) vergleicht, dann wird aus einem dynamischen Prozess eine Abfolge von Dienststellen, Spontaneität kommt nicht vor, Denken ist nur als „kognitives Verhalten“ einbezogen, anscheinend hat nur der Psychologe „Vernunft“, für den dann ein anderes Schema gilt, was immer Vernunft bei ihnen heißen soll. Das empirische Bewusstsein, das als Ganzes und auf einmal da ist, wird bei ihnen in Rubriken untergliedert und jedes konkreten Inhalts entkleidet. Aber für diesen Themenbereich sollte jemand anders zuständig sein, ich gehe von wissenschaftstheoretischen Argumenten aus...

Ich habe über Psychologie und verwandte Themen in meinem Essay mit dem Titel „Gefühl und Vernunft“ (zu der auch ihre Schriften mich angeregt haben) ausführlicher geschrieben, als ich das hier kann; wenn es Sie interessiert, dann können Sie dort eine Gegenposition zu Ihren Schriften ausführlicher nachlesen unter http://www.erinnyen.de/kultur/kulturkunst1.html#Vernunft. Inhaltlich werden im Einzelnen folgende Themen abgehandelt:

Materialistische Philosophie ist das Denken der Lust

Das Recht der Vernunft und ihrer Moral

Kritik der philosophischen Anthropologie

Psychologie als Ersatzphilosophie?

Der Mythos vom Aggressionstrieb

Die Triebstruktur des heutigen Menschen

Kulturindustrie und die Manipulation von Vernunft und Gefühl

Vorherrschende Triebstruktur und romantische Liebe

Die Triebstruktur der Befreiung

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Neben der obigen grundsätzlichen Kritik habe ich auch noch viele Einwände im Einzelnen, so unter anderen:

 -         Große Teile Ihrer „Theorie“ sind bloß klassifikatorisch, Sie zählen bloß psychische Phänomene auf, deren Lektüre mir selbst als Laien der Psychologie nichts Neues gebracht hat.

-         Zwar erwähnen Sie das diskursive Bewusstsein und die Vernunft des Menschen, aber diese sind eigenartig unbeachtet, obwohl Sie eine „umfassende Theorie“ geben wollen. Stattdessen ist für Sie anscheinend Bewusstsein auf körperliches Empfinden reduziert (2002, S. 14) Was dann menschliche Freiheit, von der Sie auch sprechen, ist, bleibt rätselhaft.

-         Ihr Text enthält viele Widersprüche, die z.B. auf ungeklärte philosophische Fragen zurückzuführen sind. Wenn Unterschiede im Denken und Handeln auf „unterschiedliche materielle Bedingungen“ zurückzuführen sind, dann ist menschliche Freiheit ausgeschlossen, einschließlich der Freiheit zur Gegensteuerung gegen „schädliches Streben“. Dass aus diesem naturalistischen Determinismus folgt, dass „die Eigenschaften des Psychischen bei allen Menschen die gleichen sind“ (2002), ist eine bloße durch nichts bewiesene Behauptung, wie überhaupt Ihre Bücher von unbewiesenen Behauptungen strotzen.

-         In ihrem Werk von 1999 philosophieren Sie über den „Sinn des Lebens“. Dies ist selbst bereits ein Entfremdungs-Symptom der Moderne. Wenn das oberste Ziel der Gesellschaft „Wachstum“ ist und alles darauf hin organisiert wird, sodass sich die Menschen dem anpassen müssen, um ihr Leben durch Lohnarbeit zu fristen, dann sind sie in einem wesentlichen Teil ihres Leben, der Arbeit zum Lebensunterhalt, fremdbestimmt. Nur für fremdbestimmte Menschen wird der „Sinn des Lebens“ zum Problem. Das Streben, glücklich zu sein, wie es in der Antike vorherrschte und das heute viele ebenfalls ersterben, bedarf keiner Rechtfertigung und keines weiteren „Sinnes“. Die Sinnfrage wird auch bei Ihnen zur Ideologie, die von der Fremdbestimmung und der Verdinglichung des Menschen ablenken soll und ihn mit Sinnsurrogaten abspeisen will, dazu gehört auch die banale Erkenntnis, dass „Wir Menschen zu Bewußtsein erwachtes Sein“ geworden sind und dass dies ausreichender Sinn wäre (1999, S. 14) (übrigens im Widerspruch zu Ihrer Forderung nach „Streben“).

-         Wenn Sie jetzt einwenden, sie wollten ja mit ihren Büchern, dass die Menschen glücklich werden, dann kann ich nur auf den grundsätzlichen Fehler hinweisen, nämlich das Überspringen der gesellschaftlichen Verhältnisse, das Ihre psychologischen Ratschläge, selbst da, wo sie akzeptabel erscheinen, konterkariert. 

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-         Sie stellen sich trotz Ihrer Kritik an der „zerstörerischen Profitwirtschaft des Großkapitals“ (1999, S. 210) „eine Wirtschaft für die Menschen auch auf überwiegend privatwirtschaftlicher Grundlage“ (S. 207) vor ebenso wie sie die Klassenstruktur der Gesellschaft akzeptieren (S. 211). Damit aber wollen Sie nichts am Wesen des Kapitalismus ändern, der genau die Ziele verhindert, die Sie erstreben. Marx hat solche Vorstellungen als kleinbürgerlich reaktionär charakterisiert. In die gleiche falsche Richtung weist ihr Reformismus (S. 211 f.).

-         Offensichtlich weltfremd ist Ihr ständiger Appell, mäßig oder asketisch zu leben. Diesen Streit hat vor 150 Jahren bereits Heine mit Börne ausgetragen. Das entscheidende Argument von Heine („Zuckererbsen für alle“) war der Stand der Produktivkräfte und die permanente Produktion von Reichtum in der kapitalistischen Gesellschaft, die jede Art Askese als reaktionär auszeichnet. Nur in Mangelgesellschaften wie der Antike und dem Mittelalter ist Askese ein angebrachte Tugend. Im Übrigen ist Luxus, gegen den Sie ständig wettern, ein historischer Begriff, was heute als durchschnittlicher Lebensstandard gilt, war früher Luxus und wird vermutlich in 100 Jahren eher die Armut kennzeichnen. Die Erde ist kein Apfel, den wir aufessen (Solschenizyn), sondern enthält genug (erneuerbare) Ressourcen, die in einer sozialistischen Weltgesellschaft vielleicht einmal alle Menschen den Durchschnittswohlstand Westeuropas genießen lässt, ohne die Welt ökologisch zu zerstören. 

-         In der kapitalistischen Gesellschaft werden die Menschen tendenziell zu bloßen Mitteln der Ökonomie, sowohl als Produzenten wie als Konsumenten; die Idee, dass der Mensch auch Selbstzweck sein kann, wird heute vielleicht nur noch in autonomer Kunst deutlich. Sie wollen anscheinend auch diese Idee noch annullieren, wenn Sie z.B. Musik als bloßes Mittel der Selbstmanipulation, also als psychologischen Stimmungserzeuger einsetzen. Gegen die Popmusik (Warenästhetik) setzen Sie „klassische und Volksmusik“ (2002, S. 37). Und mit dem musikalischen Schwachsinn, der teilweise mit der Volksmusik verbunden ist, werten Sie zugleich die klassische Musik ab, indem sie deren Gehalt negieren und beide zum stimulierenden psychischen Mittel erklären. Wie die Popmusik aufreizende Wirkung hat, so wird bei Ihnen die autonome Kunst  etwas „Besinnliches“ (1999, S. 147), sodass nicht nur die Musik ihres vernünftigen Gehalts, den Sie bestreiten, beraubt wird, sondern auch der Hörer nur als bloßes Mittel psychischer Tricks erscheint. (Hören Sie sich einmal die „aufreizende Wirkung“ der „Hammerklaviersonate“ von Beethoven an!)

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-         Überhaupt zu Ihrer Auffassung von Kunst: Sie schreiben, dass Kunst meist „nur Genußmittel“ sei, „teils zum Schädlichen verleitet, teils untüchtig macht für das wirkliche Leben, in jedem Fall (!) aber von sinnvoller Lebensgestaltung ablenkt“ (1999, S. 178)  Abgesehen davon, dass Sie die Produkte der Kulturindustrie mit denen authentischer Kunst gleichsetzen, zeugt diese Auffassung von völligem Unverständnis von Kunst, die Angst vor der eigenen Fantasie, eine banal idealistische Auffassung der Funktion von Kunst, als gäbe es nicht auch eine Ästhetik des Hässlichen, ein reaktionärer Kunstbegriff, der die moderne Kunst seit Ende des 19. Jahrhundert negiert, die platte Verwechslung von Kunst mit dem Moralisieren (das nach Nietzsche unmoralisch ist) – kurz: die Auffassung eines verängstigten Spießers und Kunstbanausen. Wozu Kunst dienen soll, sagen Sie unmissverständlich: Sie soll „uns die Wirklichkeit annehmen lassen, wie sie ist“ (1999, S. 178). Damit wischen Sie alle Kritik, die Sie hier und da an den Verhältnissen äußern wieder weg und Ihre Gesamtintention kommt wieder durch: die Anpassung der Menschen mit ihren Problemen an das Bestehende, das die Probleme erzeugt.  

Ich danke Ihnen für solche Ratschläge.

 Wenn Sie mir am Schluss eine allgemeine Einschätzung erlauben: Ihre Auffassung ist das, was Marx und Engels unter kleinbürgerlichem oder utopischem oder Bourgois-Sozialismus in ihrem „Manifest“ beschrieben haben und von dem in den beiden Büchern, die Sie geschrieben haben,  viele Elemente vorkommen (abgesehen von der historischen Besonderheit der damaligen Zeit). Sie haben den autoritären Sozialismus („Stalinismus“) hinter sich gelassen und erfreuen sich der formalen Demokratie der kapitalistischen Gesellschaft, ohne die Nachteile dieses Systems zu akzeptieren, ja auch nur mehr als oberflächlich zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen schwärmen Sie vom „Einklang des Menschen mit der Natur“, wollen „Feindschaft und Krieg, Unterdrückung, Not, Elend, Krankheiten und Siechtum“ abschaffen (1999, S. 152), und das alles auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaftsform, die Ursache dieser Erscheinungen ist. Das ist nicht nur das Programm der Illusion, sondern der Ideologie zur Absicherung des Bestehenden. „Es gehören hierher, Ökonomisten, Philanthropen, Huminitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeits-Organisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeits-Vereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art.“ (Manifest, Reclam, S. 54)  Fast alle diese Bestimmungen treffen mehr oder weniger auf Ihre Schriften zu. Ihr objektiver Zweck ist es, über den Wunsch, „den sozialen Mißständen abzuhelfen“, den „Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern“.

 In der Hoffnung Sie nicht allzu frustriert zu haben, verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

 B. Gaßmann

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Die Reaktion des Autors vom 16.11.07:

   Sehr geehrter Herr Gassmann,
vielen Dank für die Mühe, die Sie sich mit der Durcharbeitung meiner beiden Schriften gemacht haben. Ihre Beurteilt hat mich nicht frustriert, sondern von der Einleitung an eher erheitert. Aber auch erstaunt; denn ich frage mich ziemlich hilflos, weshalb Sie meine Arbeiten mit einer solchen Sammlung von Abfälligkeiten bedenken. Wie dem auch sei - ich will versuchen, auf das Wesentliche einzugehen in der Hoffnung, dass es doch noch zu einem sachlichen Dialog zwischen uns kommt, der dann vielleicht auch für die Leser Ihrer Homepage interessant ist. Jedenfalls geben sie mir Veranlassung, meine Arbeiten kritisch zu überdenken und auch sonst einige Anregungen. Ich wäre Ihnen jedoch dankbar, wenn Sie zu Ihrer Rezension meine  Homepage vermerken würden, auf der u. a. die theoretische Arbeit (2002) nachzulesen ist: www.dressler-consciousness.de  (1999: ISBN 3-9807861-4-5). Dann können sich Ihre Leser auch ein eigenes Bild machen. Ich hoffe, dass meine Antwort bis Mitte nächsten Jahres fertig ist.
Bis dahin alles Gute.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr  Johannes Dreßle

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Datum der letzten Korrektur: 25.09.2008